Flow – A Visual History of Flow

Auf der Suche nach dem poetischen Potenzial maschineller Gesten und technologiebasierten Ausdrucksweisen hat Jürg Lehni eine Reihe von performativen und diskursiven Maschinen entwickelt und diese als Basis für künstlerische Auseinandersetzungen eingesetzt. Darunter ist die Kreidezeichnungsmaschine Otto. In der Arbeit Flow erarbeiten Monika Dommann und Jürg Lehni eine Serie von Zeichnungen zum Thema der Flow- und Process Charts. Darin geht es um die geschichtliche Entwicklung dieser visuellen Sprachen und eine experimentelle Rekontextualisierung und Neuinterpretation.

Was haben Ballettnotationen aus dem Barock, betriebstechnische Verkehrspläne aus der Zeit des Taylorismus, eine grafische Darstellung des Schweizer Zementtrusts von Pollux (aka Georges Bähler) aus den 1940er-Jahren, eine avantgardistische Musikpartitur aus dem Fluxus und ein Syntaxdiagramm einer Programmiersprache zu Beginn der 1970er-Jahre miteinander zu tun?

Sie repräsentieren, visualisieren, koordinieren und synchronisieren Bewegungen in geografischen und sozialen Räumen und entwerfen Choreografien des Flusses.

Es handelt sich um Anweisungen, welche die Schritte der Körper beim höfischen Tanz oder die Bewegungen der Arbeiterinnen und Arbeitern in einer Fabrik, einer Werkstatt oder einem Lager koordinieren und synchronisieren sollen. Um Vorschriften, welche Prozesse und Operationen in ein Rechenprogramm übersetzbar machen. Um visuelle Repräsentationen, welche unsichtbare soziale Verflechtungen oder Kapitalflüsse aufdecken wollen.

Auf der Suche nach dem poetischen Potenzial maschineller Gesten und technologiebasierter Ausdrucksweisen hat Jürg Lehni in den letzten 20 Jahren eine Reihe von performativen und diskursiven Maschinen entwickelt und diese als Basis für künstlerische Auseinandersetzungen eingesetzt. In der Arbeit Flow – A Visual History of Flow erarbeiten Monika Dommann und Jürg Lehni eine Serie von Zeichnungen von exemplarischen Diagrammen mittels der computergesteuerten Kreidezeichnungsmaschine Otto, die grossflächige choreografierte Wandzeichnungen umsetzt.

Flowcharts bzw. Process Charts (dt. Flussdiagramme bzw. Ablaufdiagramme) stellen basale Formen der visuellen Grammatik der Moderne dar. In ihnen stecken die Zumutungen und Zurichtungen von Körpern, vom Absolutismus bis zur Industrialisierung. Sie bezeugen die Regeln der Effizienz, die Verheissung von Optimierung und stellen eine Voraussetzung für die Synchronisierung und Verschmelzung von Menschen und Maschinen dar.

Das in politischen, militärischen, ökonomischen und ingenieurwissenschaftlichen Kontexten entwickelte Arsenal von Zeichen und Symbolen in einem Museum zu sehen, führt die geschichtliche Entwicklung dieser visuellen Sprachen vor Augen. Zugleich eröffnen sich durch die experimentelle Rekontextualisierung und Neuinterpretation mit Kreide auf Schiefertafel Bezüge zwischen den Medien der Bildungsrevolution zur Zeit der Aufklärung und den visuellen Codes von rechnergesteuerten Gesellschaften.

17 Planet Digital
Flow Charts

Jürg Lehni, Otto, 2014 (© Foto: Jürg Lehni)

Historische Hintergründe

Barocke Ballettnotationen, Verkehrspläne aus der Zeit des Taylorismus, eine grafische Darstellung des Schweizer Zementtrusts aus den 1940er-Jahren, eine Musikpartitur aus dem Fluxus und ein Syntaxdiagramm einer Programmiersprache zu Beginn der 1970er-Jahre – sie alle visualisieren Bewegungen in geografischen und sozialen Räumen und entwerfen Choreografien des Flusses.

Beauchamp-Feuillet-Balletnotation

Die Linien und Zeichen des Balletmeisters, Tänzers und Notators höfischer Tänze Raoul-Auger Feuillet schufen ein visuelles Notationssystem für die Schritte und Bewegungen der Tänzer im Raum.

Raoul Auger Feuillet Balet

Raoul-Auger Feuillet, Chorégraphie, ou l’art de décrire la danse par caractères, figures et signes démonstratifs, Paris 1700.

Betriebstechnische Verkehrspläne

In der Zwischenkriegszeit erreichten die tayloristischen Rationalisierungsmethoden auch Europa. Die Betriebsingenieure entwarfen mittels ihrer Zirkel, Linealen und Schriftschablonen Blaupausen für die Planung der Produktion in den Fabriken.

Der Betrieb 1919 Abbildung 1
Der Betrieb 1919 Abbildung 2

C. Volk, Betriebstechnische Verkehrspläne, in: Der Betrieb, Nr. 15, September 1919, S. 373–382.

Pollux

Der Bauingenieur und Kommunist Georges Bähler (1895-1982) veröffentlichte ab 1937 unter verschiedenen Pseudonymen (u.a. Pollux, Pierre Lenoir) Schriften mit Grafiken zu den finanziellen Verstrickungen von Machteliten aus Finanz und Industrie. Bählers Liniendiagramme verdichten sich an den Knotenpunkten und visualisieren den Anschein von Filz.

01 Pollux Zement Industrie Blat 1
02 Pollux Die Regierung

Pollux, Der Zement- und Baumaterialien-Trust. Zürich 1946. ZB Zürich, Nachlass Georges Bähler, Ar 27.4 Publikationen, (unter dem Pseudonym G. Baumann: Neue Platte mit Mackie Meser, 12.2.1957)

Dench Blues Double Pattern

Als Organ des 1924 in Montreux gegründeten Internationalen Rollschuhverbandes (FIRS – Fédération Internationale de Patinage à Roulettes) kümmert sich das Internationales Komitee für Rollkunstlauf (CIPA – Comité International de Patinage Artistique) um das Regelwerk des Rollkunstlaufs, darunter auch die standardisierte Notation der Tanzmuster. Das Doppelmuster beschreibt die Schritte beider Partner als zwei separate, jedoch verbundene Pfade. Im daraus resultierenden Tanz sind diese beiden Pfade dann aber punktsymmetrisch übereinandergelegt.

CIPA Dench Blues

Robert Dench & Leslie Turner, Dench Blues Double Pattern, in: CIPA Rule Book – Artistic Roller Skating Special Regulations & Sport Rules, 2011

Music for Electronic Metronome

Der Komponist Ichiyanagi wurde in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren als frühes Fluxus-Mitglied ein wichtiger Teil der New Yorker Avantgarde-Musikszene im Umfeld von John Cage, Yoko Ono (mit der er verheiratet war), und George Maciunas. Music for Electric Metronome verwendet Zahlen und verbindende Linien als Anweisungen für eine mäandernde Klangreise, die auf Zufall und Interpretation beruht.

01 Toshi Ichiyanagi Music for Electronic Metronome
02 Toshi Ichiyanagi Portrait

Toshi Ichiyanagi, Music for Electric Metronome, 1960

Flow Charts & Punch Cards

In "Planning and coding of problems for an electronic computing instrument, Part II, Volume 1" (1947) stellten Herman Goldstine und John von Neumann die Idee vor, Programmablaufpläne von Computerprogrammen durch Flow Charts darzustellen. Solche Flussdiagramme, und damit auch die Schablonen, um diese zu zeichnen, wurden zu einem wichtigen Werkzeug zur Beschreibung von Computeralgorithmen, welche dann für die Ausführung auf damals raumfüllenden Mainframe Computer in Lochkarten übersetzt und gestanzt wurden. Seit den 1970er Jahren verloren diese Diagramme jedoch an Wichtigkeit, als interaktive Computerterminals und Programmiersprachen der dritten Generation zu gängigen Werkzeugen für die Computerprogrammierung wurden.

01 IBM Flowcharting Template
04 IBM Programmer with Punch Cards
03 IBM Programmer Drawing a Flowchart
02 IBM Punch Card

Flussdiagramme und Lochkarten

Wirth & Pascal

Der Informatiker Niklaus Wirth, der zwischen 1969 und 1999 Professor für Computerwissenschaften an der ETH war, entwickelte die Programmiersprache Pascal, mit der Millionen von Schulkindern mit dem Programmieren Bekanntschaft machten. Apple adaptierte Pascal für das eigene Betriebssystem von Apple II und Apple III.

01 Wirth Pascal

Niklaus Wirth, The Programming Language Pascal, ETH Zürich November 1970.

Bei einem Besuch im Dezember 2021 lieh uns Niklaus Wirth sein Exemplar von Apple’s Pascal Syntax Poster von 1979. Die Posters in psychedelisch anmutenden Apple-Farben hingen an den Wänden der Büros der Programmiererinnen und wurden auch an Händler und Kundinnen verschenkt.

02 Apple Pascal

Apple Pascal Syntax Poster, 1979. Privatarchiv Niklaus Wirth.

Wer ist Otto?

Otto ist eine skalierbare, robotische Kreidezeichnungsmaschine, die auf bis zu 10×10 Metern grossen Oberflächen arbeiten kann.

Über die letzen 20 Jahre hinweg hat Jürg Lehni verschiedene solcher Maschinen entwickelt (Hektor 2002, Rita 2005, Viktor 2008, Otto 2015), die alle auf dem geometrischen Prinzip der Positionierung durch Triangulation und auf einer durchgehenden Vermittlung zwischen den beteiligten Motoren basieren.

Postindustriell in ihrem Wesen, sind diese Maschinen nicht perfekt – und das sollen sie auch nicht sein: Jede von ihnen verfügt über einen eigenen Charakter und über poetische Qualitäten, mit denen sie ihre Strichzeichnungen anfertigen. Dazu nutzen sie dieselben Werkzeuge wie ein Mensch, zum Beispiel Spraydosen oder eben Kreide. Hinter ihrer Erschaffung liegt die Absicht, Computertechnologie kritisch zu befragen, insbesondere was ihre standardisierte Palette an Werkzeugen und ihren Einfluss und Auswirkungen auf den künstlerischen Prozess angeht.

Lehni nutzt diese Maschinen um Lesungen und Darbietungen in künstlerischen Kontexten zu inszenieren. Die choreografierten Zeichnung werden oft in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern und Designerinnen entwickelt. Dabei dienen die Maschinen selbst, und die durch sie angeregten Diskurse, als Ausgangspunkt für den kreativen Austausch, der sich schliesslich zu einer Zeichnung verdichtet.

Beteiligte Flow – A Visual History of Flow

Prof. Dr. Monika Dommann, Historisches Seminar, UZH
Jürg Lehni, http://juerglehni.com

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