Video- und stimmgesteuerte «Deep Fakes» sind durch hochkomplexe Algorithmen in der Lage, fiktive Realitäten quasi in Echtzeit zu erzeugen und Wahrnehmungen zu kontrollieren, ohne dabei Spuren zu hinterlassen.
Diese technischen Algorithmen setzen ausgerechnet bei den Merkmalen an, die unsere so einzigartige und individuelle menschliche Identität charakterisieren: bei der Stimme oder dem Gesicht. Das ist insofern beachtlich, da die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckt, genau diese identitätsstiftenden Merkmale zu verstehen. Oft werden Deep Fakes mit missbräuchlicher Nutzung assoziiert. Doch während die Technologie im gesellschaftlich-politischen Bereich grosses Potenzial zur Verbreitung von Falschinformationen hat, beschränkt sich der Bereich der Kunst und Unterhaltung oft darauf, bekannten Menschen neue Worte in den Mund zu legen oder die Gesichter der Handelnden auszutauschen.
Die immersive Installation All the Lives hingegen erlaubt es dem Publikum, sich mittels Deep Fakes in alternative Lebenssituationen zu begeben, die bevorstehen könnten oder die bereits erlebt wurden. In einem ersten Schritt wird eine Bild- und eine Stimmprobe der Besucherinnen und Besucher aufgenommen und dann in einem zweiten Schritt durch einen Deep-Fake-Algorithmus in Kurzfilme eingebunden, in denen sie sich in einer synthetisierten Realität und Lebenswirklichkeit wiederfinden. In diesen Filmen sehen sich die Besucherinnen und Besucher beispielsweise als ältere Menschen auf der Terrasse ihres sonnigen Strandhaus oder einsam am Tisch sitzen, gefangen in einem tristen Büro, als Filmstars belagert von Kameras und Blitzlichtern oder sportlich fit auf einen Boxsack einschlagen.
Die Erfahrung, sein Deep-Fake-Ego in einer neuen und bisher nicht gelebten Rolle, Situation oder Identität zu erleben, regt dazu an, alltägliche Rollen und nicht zuletzt seinen eigenen, konkret gelebten Lebensentwurf zu reflektieren. In diesem Sinne kann die All the Lives als philosophische Maschine verstanden werden, die einerseits die Entscheidung für einen bestimmten Lebensentwurf und dessen Grenzen in den Fokus rückt und andererseits eine Projektionsfläche für das menschliche Selbst und dessen mögliche andere Identitäten bietet. Gleichzeitig entsteht durch das immersive Erlebnis ein nahegehendes Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Dimensionen dieser Technologien. So eröffnet die innovative künstlerische Installation neuartige wissenschaftliche Herangehensweisen zur Erforschung des menschlichen Identitätscodes.
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Paul Ricoeur, Oneself as Another (Chicago: University of Chicago Press, 1994).
Konzept: Dr. Björn Franke, Interaction Design & Visual Communication, ZHdK
Programmierung: Paulina Zybinska, Interaction Design, ZHdK
Video: Nadine Cocina, Interaction Design, ZHdK
Casting: Isabela Gygax
Schauspieler und Schauspielerinnen: Tina Schmid, Christian Leugger, Teresa Matusadila Leuzinger, Rahim Lascandri, Astrid Kehl, Kurt Herzog, Kemal Dempster, Christoph Gross, Susann Klossek, Walesca Frank, Melisa Sari Arslan, Ramona Sprenger, Jemsith Regan Raveendran, June Donkor, Oliver Meier, Clifford Seidmann, Elijah Knight, Kate Tsui